„Sein treues Herz tat den letzten Schlag“
LEBENSERINNERUNGEN Krankheiten und Sorgen gehörten zum Leben Sophie Henschels
Gestochen scharfe Handschrift: Sophie Henschel hat in ihren Lebenserinnerungen die Hochzeiten ihrer Kinder fein säuberlich aufgelistet. Damals war sie 71 Jahre alt, am Grauen Star operiert und hatte einen leichten Schlaganfall erlitten. FOTO: CLAUDIA FESER |
Sophie Henschel (1841-1915) hat mit 71 Jahren ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Sie zeigen uns ein ganz privates Bild der Kasseler Lokomotivfabrikantin. Wir veröffentlichen ihre Erinnerungen in Auszügen.
VON CLAUDIA FESER
Kassel – Die Lebenserinnerungen der Sophie Henschel (1841-1915) sind ein bemerkenswertes Zeitdokument ihres Lebens um die Jahrhundertwende.
Abschriften an die Kinder werden im Familienarchiv des Vereins Henschelmuseum aufbewahrt.
Die in Sütterlinschrift verfassten Erinnerungen wurden von Christa Forcht transkribiert und geben einen Einblick in das Leben und auch die Sorgen der Unternehmerin Sophie Henschel, die auch Mutter und Großmutter war.
Schließlich lebte sie in einer Zeit, in der Krankheiten aufgrund fehlender Medikamente lebensbedrohend waren, selbst bei begüterten Familien – bei vier Kindern kamen so manche Krankheiten zusammen. Insbesondere Sohn Karl war kränklich, und die Eltern in Sorge um den Stammhalter.
Typhöses Fieber
Krankheiten ziehen sich durch alle 65 Seiten der Erinnerungen. Als Erstes erwähnt Sophie Henschel eine schwere Erkrankung der erstgeborenen Tochter Erna, die damals vier Jahre alt war. Sie schreibt: „Am 8. Juni 1870 kamen Oskar und ich von einem Familientag in Rotenhoff (Sophie Henschel ist auf der Domäne Rotenhoff bei Minden aufgewachsen) zurück, folgenden Tags brach bei Erna ein typhöses Fieber aus, ich pflegte sie Tag und Nacht allein, und während sie sich langsam erholte, kamen die ersten beunruhigenden Nachrichten über einen zwischen Deutschland und Frankreich bevorstehenden Krieg.“
Herzleiden
Den ersten Todesfall erwähnt sie für 1872: „Meine Schwiegermutter war den Winter über viel leidend (...). Es hatte sich ein Herzleiden ausgebildet, und sie hatte Wassersucht in den Beinen. Sie saß noch am Tag vor ihrem Tod in einem Fahrstuhl und pflückte sich Erdbeeren von einem Stöckchen, das ich ihr mitgebracht hatte. Als ich sie am 13. April vormittags besuchen wollte, war sie sanft entschlafen.
Sie soll geäußert haben, es ließe sich ruhiger sterben, da gerade ich die Frau ihres Sohnes wäre!“
Gehirnkrampfanfälle
Nach einer fünfwöchigen Italienreise kehrten Oskar und Sophie Henschel am 16. Mai 1874 zurück nach Kassel.
„Abends bekam Luischen (die zweitälteste Tochter, damals acht Jahre alt) Diphteritis und am 9. Juni während eines sehr heftigen Gewitters Karl (sieben Monate alt) Gehirnkrampfanfälle, die bis zum 11. andauerten. Sein Zustand war höchst gefährlich. Da fing ich an, dem Kleinen, ohne ihn zu berühren, mit meiner Hand das Beinchen abwärts zu streichen, ich dachte, es könnte ihn beruhigen. Medizinalrat von Wild sagte, ich hätte Karl magnetisiert, er schlief ein und war gerettet, wenn er auch noch Jahre vor Gewitterluft und Erhitzung gehütet werden musste.“
Rheuma, Blutspeien
1875 erkrankten die beiden ältesten Töchter schwer. Ihre Mutter schreibt: „Erna (damals 3 Jahre alt) erkrankte im Januar schwer an Gelenkrheumatismus. (...) Im Herbst bekam sie nach längerem Hüsteln Blutspeien und wurde (...) auf sieben Monate nach Nizza und Cannes geschickt. (...) Am 16. Mai erkrankte Luise (knapp zehn Jahre alt) an einer sehr langwierigen Rückenwirbelentzündung, sie ertrug die Schmerzen mit rührender Geduld.“
Scharlachfieber
1881, kurz nach Luises Konfirmation, „erkrankte Erna an einem sehr schweren typhösen Scharlachfieber. Nachdem sie genesen, war ich (...) zur weiteren Erholung mit den älteren beiden Töchtern und Karl (...) in meiner alten Heimat Rotenhoff.“
Blinddarmentzündung
1883 verzeichnete die Mutter Sophie Henschel die erste Blinddarmentzündung bei ihrem damals siebenjährigen Sohn Karl.
Wirbelentzündung
1890 gilt die Sorge der Henschels wieder dem Stammhalter, der damals knapp 15 Jahre alt war: „Karl erkrankte am 15. September an Rückenwirbelentzündung, absolute Ruhe im Bett auf schmalem Eisfach liegend wurde notwendig. Geheimrat König aus Göttingen kam zwei Mal zur Konsultation hierher. Wegen Karls schwerer Erkrankung wurde Elisabeths Hochzeit in kleinstem Familienkreis am 29. Dezember gefeiert.“
Blasenblutung
Die nächste schwere Erkrankung hatte Oskar Henschel. An Himmelfahrt 1891 besuchte er mit Ehefrau Sophie die verheiratete Tochter Luise in Schwebda (Werra-Meißner-Kreis), wo Oskar Henschel mit Schwiegersohn Alex „eine lange Fahrt auf einem arg stoßenden Jagdwagen“ machte. Sophie Henschel schreibt: „Auf diese Erschütterung wurde es geschoben, dass Oskar nach unserer Heimkehr eine starke Blasenblutung bekam. Geheimrat König aus Göttingen kam und es wurde festgestellt, dass Oskar ein typisches Blasenpapillon hatte und keinerlei bösartige Erkrankung der Blase. Aber der Druck, der seitdemauf Oskars Gemüt lastete, war schlimmer als das Leiden selbst und war ein großer Kummer für ihn, dass die Ärzte die gewohnte Reise nach Norderney nicht gestatten wollten, da sie fürchteten, die lange Eisenbahnfahrt wurde von Neuem eine Blutung hervorrufen. (...)
Schwere Migräne
„Auf dringenden Rat der Ärzte beschränkte Oskar ja etwas seine rastlose Tätigkeit in der Fabrik, aber gerade wenn sich ein Migräneanfall vorbereitete, bekam er die Unruhe, dort nach allem zu sehen und kam oft jammervoll elend zurück. Ruhiges Liegen zu Bett im ganz dunklen Zimmer, wo ich ihm ständig kühle Kompressen machte, war ihm am Wohltuendsten. Das Erbrechen war so sehr quälend für ihn, und zuweilen konnte er 24 Stunden nichts genießen. Manchmal wurde er durch die heftigen Schmerzen ohnmächtig. Es war wie eine Erlösung für ihn und uns, wenn der Anfall vorüber war. Seine früher so brillanten Augen litten häufig durch Flimmern und Blendung, auch konnte er das Fahren nicht mehr gut vertragen. Er ging zwei Mal den Weg zur Fabrik, abends auch zurück, mittags mir zuliebe fuhr er mit dem Wagen. (...) Oskars Erkrankung 1891 ließ ihn so besorgt in die Zukunft sehen, dass er (den damals 16 Jahre alten und einzigen Sohn) Karl (...) praktisch und technisch für seinen künftigen Beruf vorbilden ließ.
Zahnschmerzen
Die Sorgen um ihren Ehemann Oskar setzten sich fort. Für 1894 schreibt Sophie Henschel: „Oskar litt im Sommer sehr heftige Schmerzen an einem Augenzahn (ein Eckzahn), der unter dem Zahnfleisch eine Höhlung hatte. Der Nerv lag bloß, aber alle Bemühungen der Zahnärzte, ihn zu töten, waren vergeblich. (...)
Die Entzündung an dem kranken Zahn quälte Oskar sehr, und er entschloss sich deshalb, ihn sich ausziehen zu lassen. Seitdem verlor sich das Flimmern, (...) wir fuhren meistens nach Wilhelmshöhe und machten dort einen Rundgang.
Lungenentzündung
Luise Keudell (die zweitgeborene Tochter, mit Alexander von Keudell verheiratet) kam Anfang November hierher und fand den geliebten Vater sehr verändert. Am 8. November trat eine Lungenentzündung ein. In den ersten Tagen pflegte ich Oskar allein. In meiner Angst, die Pflege wohl nicht so gut zu verstehen wie erfahrene Rot-Kreuz-Schwestern, bekam ich dort zwei, die mich abwechselnd unterstützten. (...) Aber bei Lungenentzündung kann man so wenig tun, wenn die Natur des Kranken sich nicht hilft.
Sonnabend, 17. November, wo die Abendtemperatur 39 1/2 betrug, wurde den auswärtigen Kindern telegrafiert, sie möchten kommen. (...) Um zehn Uhr abends tat Oskar den letzten Atemzug und sein treues Herz den letzten Schlag.“
Lebenserinnerungen für die Kinder: Vier Exemplare hat Sophie Henschel angefertigt, eines für jedes Kind. Im Bild die Abschrift für Tochter Erna, die seit 1886 mit Ernst Kieckebusch verheiratet war. FOTO: CLAUDIA FESER |
Fotografie als Schnappschuss: In einem Fotoalbum der Familie Henschel ist das Bild mit den Worten „Karl und Mama“ unterzeichnet. Das Foto wurde vermutlich auf dem Weinberg aufgenommen. SAMMLUNG: VEREIN HENSCHELMUSEUM |
Gicht und Schlaganfall
Erst nach dem Tod des Ehemannes erwähnt sie eigene Krankheiten. „Seit Frühjahr 1895 litt ich sehr an Gicht, die Prof. Ebstein aus Göttingen für ererbt erklärte. (...) Mitte November 1900 (...) hatte ich morgens nach dem Ankleiden einen leichten Schlaganfall. (...) Geblieben ist mir seitdem nur ein plötzliches Versagen meines Gedächtnisses, dass ich Namen nicht erinnern kann und wohl auchmal eine andere Aussprache als ich beabsichtige. (...)
Grauer Star
Am 19. November 1905 fuhr ich nach Berlin, (...) und der weiche Star meines linken Auges wurde erfolgreich operiert. (...)
Gürtelrose
Als ich am 1. Juli 1910 abends bei Karl war, bekam ich so heftige Schmerzen in der linken Hüfte, dass ich nach Hause ging, um mich zu Bett zu legen. Es wurde Gürtelrose festgestellt, die furchtbar schmerzhaftwar und mich bis Mitte August ans Bett fesselte. Die Kaiserin ließ sich einige Male nach meinem Befinden erkundigen und sandte mir auch Blumen.“
Zuletzt geändert am: 24.05.2024 um 02:02
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